Inkadenzphänomen

Autoren:
Sascha Petzold
ARTIKEL erstellt am

25. Februar 2022

und zuletzt bearbeitet am
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Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Belastungsaussage kommt es auch ganz wesentlich auf die Aussagekonstanz an.

Da die Belastungsaussage aber häufig alles andere als konstant sind, scheinen einige Instanzgerichte und einige gerichtsdienliche Sachverständige das Inkadenzphänoment als Allheilmittel zur Sicherung der Verurteilung zu verstehen.

Das ist wissenschaftlich zweifelhaft und rechtlich unzulässig. Zum Glück sehen das auch die Revisionsgerichte skeptisch.

Bitte beachten Sie die neueren Entscheidungen des 4. Strafsenats, wonach eine rein abstrakt-mögliche Beeinträchtigung der Konstanz durch das Inkadenzphänomen nicht ausreichend sein kann; erforderlich ist, dass für die konkrete Inkonstanz im Fall das Inkadenzphänomen konkret seine Wirkung entfaltet hat.

Inhaltsverzeichnis

Literatur

Arntzen, » Psychologie der Zeugenaussage« 1 

Wir bezeichnen das Auftauchen und Versinken von Erinnerungsinhalten, das Phänomen, dass Menschen eine Erinnerung nicht gerade zu einem Zeitpunkt zu reproduzieren vermag, zu dem er sie zu reproduzieren wünscht, dass sie ihm zu einem späteren Zeitpunkt aber durchaus wieder zur Verfügung stehen kann, als "Inkadenzphänomen".
  • Amelung in Breyer/Endler, »AnwaltFormulare Strafrecht«, 4. Aufl. 2017, Kap. 8 Rn. 40
  • Geipel, »Handbuch der Beweiswürdigung«, 3. Aufl. 2017, § 17 Rn. 112 f. .
  • Jakobson, »Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis«, 2. Aufl. 2015, S. 776 f..
  • Michaelis-Arntzen, Die Vergewaltigung, 2. Aufl. 1994, S. 101 f..
  • Mohnert in Effer-Uhe/Mohnert, »Psychologie für Juristen«, 1. Aufl. 2019, Rn. 325
  • Häcker in Bender/Häcker/Schwarz, »Tatsachenfeststellung vor Gericht«, 5. Aufl. 2021, Rn. 230 und 948 ff.

Interessant ist aber freilich, in welchen Fachpublikationen das Inkadenzphänomon keine Erwähnung findet.2

  • Bliesener/Lösel/Köhnken (Hrsg.), »Lehrbuch der Rechtspsychologie«, 1. Aufl. 2014
  • Jansen, »Zeuge und Aussagepsychologie«, 3. Aufl. 2021
  • Kröber/Steller, »Psychologische Begutachtung im Strafverfahren«, 2. Aufl. 2005
  • Odebralski, »Strafverteidigung in Sexualstrafverfahren «, 1. Aufl. 2020
  • Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer (Hrsg.), »Psychiatrische Begutachtung«, 6. Aufl. 2015
  • Volbert/Steller (Hrsg.), »Handbuch der Rechtspsychologie«, 1. Aufl. 2008

Eine Recherche von Rechtsanwalt Sascha Petzold am 10.12.2021 in der Datenbank des größten medizinischen Verlags »Springer« ergab zu dem Suchbegriff »Inkadenzphänomen« keinen einzigen Treffer.

Aus der Instanzrechtsprechung

LG Ingolstadt, Urteil vom 17 .02.2021 - J KLs 11 Js 20719/18 jug 3

Die Sachverständige erläutert in diesem Zusammenhang auch das sogenannte „Inkadenzphänomen“, welches durch Befunde der Grundlagenforschung bestätigt werde. Dieses führe dazu, dass Gedächtnisinhalte nicht immer vollständig zu jeder Zeit zu jeder beliebigen Zeit abrufbar seien, sodass es daher zu Inkonstanzen bei der Zeugenaussage kommen könne, die jedoch keine inhaltlichen Widersprüche darstellen würden, aufgrund derer an der Glaubhaftigkeit der Aussage insgesamt gezweifelt werden müsse. Es sei durchaus denkbar, dass bei einer Vielzahl von inkriminierten Handlungen im Rahmen unterschiedlicher Befragungssituationen jeweils unterschiedliche Einzelfälle geschildert würden, die aber jeweils per se als glaubhaft eingestuft werden könnten. 
...
Für die Kammer ist es vor diesem Hintergrund nur allzu gut nachvollziehbar, dass Details bei gleichförmigen Geschehensabläufen nicht mehr für alle Einzelfalle von der Zeugin präzise wiedergegeben werden können und es zu Verschmelzungen, Verdrehungen und Auslassungen in den Angaben der Zeugin, auch jeweils abhängig von der einzelnen Vernehmungssituation und der Fragetechnik des Vernehmenden, kommen kann.

Aus der Revisionsrechtsprechung

BGH, Beschluss 23.05.2023 - 4 StR 37/23 4

a) Sofern bei der Aussageanalyse aufgetretene Inkonstanzen in Bezug auf ein wenig vergessensanfälliges Erleben durch das sog. Inkadenzphänomen erklärt werden sollen (im angefochtenen Urteil der von der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung auch auf Vorhalt ihrer Angaben bei der Polizei nicht bestätigte Umstand, dass der Angeklagte sie bei einem Vorfall aufgefordert habe, sie selbst solle ihre Beine weiter auseinander machen), ist ein Beleg durch das Tatgericht erforderlich, dass in der Vernehmungssituation tatsächlich ein Gedächtnisverschluss vorgelegen haben könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juli 2022 – 4 StR 96/22 Rn. 8).

BGH, Beschluss vom 01.07.2022 – 4 StR 96/22 5

Das Landgericht hat als Erklärung „unterschiedlich vollständige(r) Berichterstattungen aufgrund von Erinnerungslücken“ das Inkadenzphänomen angeführt, hierzu aber nicht die erforderlichen Feststellungen getroffen. Als Inkadenz (Gedächtnisverschluss) wird im Wesentlichen das vorübergehende Nichterinnern an Details bezeichnet, das verstärkt bei „minderbegabten“, besonders gehemmten oder alten Aussagepersonen auftritt (Häcker in Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5. Aufl., Rn. 949). Indessen fehlt es vorliegend an einem Beleg dafür, dass bei der Vernehmung durch die Polizei und bei der Exploration durch die Sachverständige - anders als in der Hauptverhandlung - ein Gedächtnisverschluss des kindlichen Zeugen vorgelegen haben könnte, dessen kognitive Leistungsfähigkeit die Sachverständige als gut durchschnittlich eingestuft hat. Der Nebenkläger hat sich laut den im Urteil wiedergegebenen Erläuterungen der Sachverständigen auch nicht darauf berufen, sich bei früheren Vernehmungen an etwas nicht erinnert zu haben, sondern erklärt, er habe nicht alles erzählt, weil er sich nicht getraut habe.

BGH, Urteil vom 14.12.2021 - 1 StR 234/21 6

Fragwürdig ist, ob sich sämtliche vom Landgericht aufgezeigte Abweichungen in den Angaben der Nebenklägerin bei den drei Vernehmungen (der polizeilichen, ermittlungsrichterlichen und ergänzenden Vernehmung in der Hauptverhandlung) sowie bei der Begutachtung durch die Sachverständige, insbesondere bezüglich des Beginns der Tatserie und des Zeitpunkts des erstmaligen Eindringens mit einem Finger, tatsächlich mit einem "Inkadenzphänomen" erklären ließen (vgl. auch BGH, Urteil vom 27. Februar 2013 - 2 StR 206/12 Rn. 18). Dies ist insbesondere für das Abweichen der Aussagen bezüglich der Steigerung der Intensität der Übergriffe fraglich; Während nach den ersten beiden Vernehmungen der Angeklagte vor dem Campingurlaub in Italien gleich beim ersten sexuellen Übergriff im Kinderzimmer seinen Finger eingeführt haben soll, soll er der Exploration zufolge sich bei den ersten Taten im Intimbereich vorgetastet haben; erst bei späteren Übergriffen sei er eingedrungen.

BGH, Beschluss vom 15. März 2017 - 2 StR 270/16 7 

2. Die Beweiswürdigung der Strafkammer ist auch widersprüchlich.  
Das Landgericht geht davon aus, dass die Aussage der Zeugin „leichtgradig verarmt“ ist und erklärt dies mit dem Inkadenzphänomen, dem allgemeinen, durch Zeitablauf bedingten Erinnerungsverlust, einem Prozess motivierten Vergessens sowie der Aufregung der Zeugin im Rahmen der Vernehmung in einem Gerichtssaal. Ungeachtet dessen, dass eine verstärkte Heranziehung solch allgemeiner Grundsätze bei der Würdigung einer konkreten Zeugenaussage die Besorgnis begründen kann, der Tatrichter habe die Bedeutung des Prüfungskriteriums der „Aussagekonstanz“ missachtet (vgl. BGH, Urteil vom 27. Februar 2013 - 2 StR 206/12 - juris Rn. 18), stehen diese Ausführungen im Widerspruch zu der an anderer Stelle getroffenen Feststellung, die Schilderungen der Nebenklägerin seien „überdies logisch konsistent und detailreich“. Wie eine „leichtgradig verarmte“ Aussage zugleich detailreich sein kann, erschließt sich dem Senat ohne nähere Erörterung nicht.

BGH, Urteil vom 27.02.2013 - 2 StR 206/12 BGH 8

Dass die Strafkammer dabei vor allem im Rahmen der Prüfung der Aussagekonstanz immer wieder (allgemein) auf „natürliche Vergessens-, Vermengungs- und Verschmelzungsprozesse" sowie (irreführend) auf das „Inkadenzphänomen" abgestellt hat, lässt vorliegend noch nicht besorgen, das ihr dabei die Bedeutung des Prüfungskriteriums „Aussagekonstanz" in rechtlich bedenklicher Weise aus dem Blick geraten sein könnte.

Fußnoten

  1. Arntzen, » Psychologie der Zeugenaussage«, 5. Aufl., S. 63).
  2. Überprüft nach den jeweiligen Stichwortverzeichnissen.
  3. UA 40. Das LG Ingolstadt wurde aufgehoben durch BGH, Urteil vom 14.12.2021 - 1 StR 234/21
  4. BGH, Beschluss vom 23.05.2023 – 4 StR 37/23, Rn. 19.
  5. BGH, Beschluss vom 01.07.2022 – 4 StR 96/22, Rn. 8.
  6. BGH, Urteil vom 14.12.2021 - 1 StR 234/21, Rn. 10.
  7. BGH, Beschluss vom 15. März 2017 - 2 StR 270/16 Rn. 20 f. .
  8. BGH, Urteil vom 27.02.2013 - 2 StR 206/12, Rn. 18.