Die »Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege« ist eine Erfindung des Bundesverfassungsgerichts. Ziel scheint es zu sein, die Grundrechte der Bürger unter den Vorbehalt der »Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege« zu stellen.

Prof. Dr. Sommer1 stellte dazu fest:

„Die Beseitigung der ursprünglichen Zweckbestimmung einer rechtlichen Institution mit dem – zudem unbelegten – Hinweis auf ihre drohenden Funtionsuntüchtigkeit wird vom Bundesverfassungsgericht sogar auf Kosten der Aushebelung von Grundrechten kultiviert.“

Später hatte Herr Landau (Richter am BVerfG a.D.) die Idee aufgegriffen und „wiederbelebt“.2 Interessant ist, dass die Möglichkeit, die »Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege« durch Bereitstellung ausreichend finanzieller Mittel statt Beschneidung der Grundrechte, scheinbar den Vorstellungshorizont der Protagonisten übersteigt.

Dass sich gerade Richter am Bundesverfassungsgericht als Gegner des Rechtsstaats outen, ist nicht nur befremdlich, sondern auch beschämend.

Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Ruhestand von Landau nunmehr auch die Idee der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ für immer das Zeitliche segnet.

Literatur

Nach § 163 Abs. 2 S. 1 StPO gilt:

»Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes übersenden ihre Verhandlungen ohne Verzug der Staatsanwaltschaft.«

Das Problem

Der Wortlaut der Norm erscheint eindeutig, wenn auch die Auslegung des Wortes Verhandlungen in diesem Zusammenhang nicht so leicht erscheint.

Gleichwohl entspricht es verbreiteter Praxis der Polizei und des Zolls, Ermittlungen erst recht spät, teilweise erst nach Abschluss der von ihnen für erforderlich gehaltenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu übersenden oder mitzuteilen.1

Dies führt zu den (gewollten) Effekt, dass letztendlich die Polizei entscheidet, wann und in welchem Umfang der Beschuldigten oder dessen Verteidiger ihren Anspruch auf Information über die Ermittlungen, üblicherweise durch Akteneinsicht, gewährt wird.

Zweck der Übersendungspflicht

Staatsanwaltschaft ist Herrin des Ermittlungsverfahrens

Einig ist sich die Kommentarliteratur, dass die Staatsanwaltschaft als »Herrin des Ermittlungsverfahrens« das Ermittlungsverfahren leiten muss2 und daher zur justizmäßigen Sachleitung der polizeilichen Ermittlungen verpflichtet ist3.

Die Polizei ist Ermittlungsperson4 der Staatsanwaltschaft.

Die Leitungsaufgabe der Staatsanwaltschaft kann freilich nicht ohne die hierfür notwendigen Informationen erfüllt werden.5

Dazu LR/Erb6:

Die uneingeschränkte Verpflichtung der Polizei, ihre „Verhandlungen“, also alle bei ihr erwachsenen Vorgänge, ohne Verzug, also auf dem schnellsten Wege, der Staatsanwaltschaft zu übersenden, soll bewirken, dass die Staatsanwaltschaft ihrer Aufgabe gerecht werden kann, sich aus einer umfassenden Sachverhaltskenntnis heraus erforderlichenfalls unmittelbar in die Ermittlungen einzuschalten und die weitere Sachbehandlung zu beeinflussen.

Akteneinsicht des Verteidigers oder des Beschuldigten

Soweit ersichtlich erwähnt aber keine Kommentierung, dass die Übersendung der »Verhandlungen« nicht nur zur Leitungsaufgabe der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, sondern auch vielmehr für die Sicherstellung des Anspruchs auf Akteneinsicht.

Nach § 147 Abs. 5 S. 1 StPO ist für die Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft zuständig. Die Polizei darf keine Akteneinsicht gewähren. Die Akteneinsicht ist konkretisiertes Verfassungsrecht, nämlich des Anspruchs auf »rechtliches Gehör«.

Nach Art 6 Abs. 3 lt. a) EMRK hat jede angeklagte Person als Mindestrecht, »innerhalb möglichst kurzer Frist [...] über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden.«

Zeitpunkt der Übersendung

Richterliche Auffassung

Ziegler in SSW-StPO7:

Dies hat ohne zeitlichen Verzug zu geschehen, d.H. nach Abschluss aller für die Entscheidung nach § 170 erforderlichen Ermittlungshandlungen einschließlich der Beschuldigtenvernehmung (§ 163a StPO).

Rechtskonforme Auffassung

Wie gezeigt, ist die Übersendung der »polizeilichen Verhandlungen« notwendig für den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Akteneinsicht als »Normallfall« der Gewährung des rechtlichen Gehörs.

Daher muss § 163 Abs. 2 S. 1 StPO EGMR-konform dahingehend ausgelegt werden, dass durch rechtzeitige/unverzügliche Übersendung der »Verhandlungen« an die Staatsanwaltschaft diese ihre Pflicht auf unverzügliche8 Unterrichtung des Beschuldigten erfüllen kann.

Auch die Entscheidung des Gesetzgebers für den Plural bei »Vernehmungen« spricht für eine Pflicht zur sukzessiven Übersendung der jeweiligen Ermittlungshandlungen.

Die Auffassung der richterlichen Kommentatoren ist daher nicht nur unverständlich, sondern schlicht verfassungswidrig und rechtsfremd.

Keine "Heilung" der Polizeipraxis

Kein Gewohnheitsrecht

Es ist zumindest tröstlich, dass aus dem perpetuierten Gesetzesverstoß der Ermittlungsbehörden kein Gewohnheitsrecht für die Polizei entstanden sein soll:

Ziegler in SSW-StPO9:

Abweichend vom gesetzlichen Leitbild hat sich in der Praxis des polizeilichen Handelns dahin entwickelt, dass in den meisten Fällen Ermittlungen über die in Abs. 1 Satz 1 geforderten ersten Ermittlungshandlungen hinaus die Sache »ausermittelt« wird (vgl. LR/Erb § 163 Rn. 24.). Damit ist jedoch noch kein Gewohnheitsrecht entstanden, dass der Polizei ein Recht zu eigenständigen Ermittlungen ohne Einfluss der StA gibt.

Kein konkludenter Verzicht auf Übersendung durch Staatsanwaltschaft

Entgegen der Auffassung von Walther kann die Duldung der Praxis nicht zu einer rechtlichen Zulässigkeit verhelfen.

AnwK-StPO/Walter10:

Da diese Handhabung von den Staatsanwaltschaften geduldet wird, ist insofern von einer stillschweigenden Beauftragung der Polizei mit der Durchführung der erforderlichen Ermittlungen auszugehen.

Zweifelhaft ist bereits der angenommene Erklärungswert der vermeintlichen Duldung. Die damit einhergehende Auffassung, die Staatsanwaltschaft könne sich durch Untätigkeit Ihrer rechtlichen Pflichten entledigen, darf als abenteuerlich bezeichnet werden. Ebenso dass der Beschuldigte durch Untätigkeit/Duldung sein Recht auf Information bzw. rechtliches Gehör verliert.

Umfang der Übersendung

Der Umfang der Übersendungspflicht richtet sich naturgemäß nach den Umfang der Akteneinsicht sowie dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit und Aktenwahrheit.11

Dementsprechend umfasst der Begriff der Verhandlungen sämtliche Ermittlungsvorgänge, d.h. die vollständigen Akten einschließlich aller Spurenakten mit Bezug zu Tat und Täter, sachliche Beweismittel sowie Verfalls- und Einziehungsgegenstände.12

Rechtsmittel

Die nicht (rechtzeitige) Übersendung der »Verhandlungen« sind polizeiliche Maßnahmen im Ermittlungsverfahren. Dagegen ist die Fachaufsichtsbeschwerde bzw. Dienstaufsichtsbeschwerde13 zulässig. 14


Fußnoten

Dr. Lara Wolf:
»Die Fluchtprognose im Untersuchungshaftrecht -
Eine empirische Untersuchung der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 StPO«
1. Auflage 2017, 443 Seiten, Broschiert, Nomos, € 99,00
Reihe Studien zum Strafrecht, Band 86
ISBN 978-3-8487-4440-4

Angaben des Verlages

Zum Inhalt

Die Praxis der deutschen Untersuchungshaft wird dominiert vom Haftgrund der Fluchtgefahr. Die Fluchtgefahr wird von den Gerichten seit Jahrzehnten aus bestimmten Faktoren abgeleitet. Woher aber stammen diese Faktoren? Basieren sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und empirischer Forschung? Das Gegenteil ist der Fall. Empirische Forschung ist auf dem Gebiet nicht bzw. nur sehr rudimentär vorhanden.

Dies führt zu einer für alle Verfahrensbeteiligten unhaltbaren Situation, die von allzu großer Rechtsunsicherheit und einem großen Spielraum der Richter geprägt ist – trotz der erheblichen Grundrechtssensibilität des Haftrechts. Aus diesem Grund widmet sich die Arbeit diesem Thema mit einer empirischen Untersuchung, die quantitative und qualitative Methoden verbindet, um wissenschaftlich fundierte Rückschlüsse dahingehend ziehen zu können, welche Faktoren für eine Flucht des Beschuldigten entscheidend sind.

Hierzu wurde eine bundesweite Aktenuntersuchung anhand von rund 170 Strafverfahrensakten diverser deutscher Oberlandesgerichte (OLG) durchgeführt. Je nachdem, ob ein Beschuldigter trotz vom Gericht angenommener Fluchtgefahr nach einer wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot angeordneten Haftentlassung floh oder nicht, lässt sich untersuchen, ob die Fluchtprognose richtig war. Hierzu wurde die Lebenssituation der Beschuldigten analysiert und untersucht, welche Faktoren jeweils vorlagen. Auf Basis dessen wurde statistisch errechnet, welche Anhaltspunkte die Flucht am besten prognostizieren können. Im weiteren Verlauf wurden Interviews mit Richtern sowie ehemaligen Untersuchungsgefangenen geführt.

Auf dieser Grundlage zeigt die Arbeit nicht nur die statistische Korrelation eines jedes untersuchten Merkmals mit der Flucht auf. Vielmehr lässt sich mithilfe der eigens entwickelten Kosten-Nutzen-Theorie zur Beurteilung der Fluchtgefahr feststellen, welche Faktoren bei der Fluchtentscheidung tatsächlich eine Rolle spielen und welche Annahmen der Judikatur sich nicht nachweisen lassen.

Im Kern kristallisierte sich eine derart geringe Prognosesicherheit in der geltenden Fluchtgefahrpraxis heraus (nur 8% der Fluchtprognosen bestätigten sich), dass sich Fragen von Verhältnismäßigkeit und Rechtstaatsprinzip stellen. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich in 42% der Fälle die Untersuchungshaft ex post als unverhältnismäßig herausstellte (z.B. Bewährungen, Freisprüche, Verfahrenseinstellungen, Geldstrafen). Darüber hinaus offenbarte sich eine Diskriminierungspraxis gegenüber sozial Schwachen – insbesondere Wohnungslosen oder schlecht ausgebildeten Personen – und Nichtdeutschen in der Haftpraxis. Hier zeigt sich eine Tendenz, schlecht begründete Haftbefehle auf leicht zu bejahende, angeblich fluchtanreizende Faktoren zu stützten.

Dies führt zu einem besorgniserregend hohen Anteil an Nichtdeutschen in den deutschen Untersuchungshaftanstalten. Weiterhin wird die Kontrolle durch höhere Gerichte ebenso wie die Effektivität richterlicher Kontrolle in den Blick genommen. In diesem Kontext zeigt die Dissertation auf, welche Missstände insbesondere bei der Dauer der Inhaftierung und der besorgniserregend mangelhaften Begründungspraxis bestehen.

Insgesamt zeigt die Arbeit Lösungswege zur Verbesserung der bisher untragbaren Situation auf, indem sie anhand statistischer Untersuchungen einzelne Punkte identifiziert, anhand derer sich die Fluchtgefahr in Zukunft deutlich besser prognostizieren lässt.

Inhaltsübersicht

A. Einleitung
I. Problemaufriss
II. Vorgehensweise der Arbeit

B. Überblick über die Untersuchungshaft
I. Gesetzliche, theoretische und praktische Grundlagen der Untersuchungshaft
II. Übersicht über die Rechtsprechung zu fluchtbegünstigenden und fluchthemmenden Merkmalen
Ill. Exkurs: Fluchtgefahr und Unionsbürgerschaft unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Haftbefehls

C. Prognosen in Theorie und Strafrechtspraxis – insbesondere: Die Fluchtgefahrentscheidung als Prognoseentscheidung
I. Die Prognose im Strafrecht
II. Entscheidung über die Fluchtgefahr als Prognose
Ill. Struktur der Entscheidung nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
IV Einschränkungen hinsichtlich Prognosen in der strafrichterlichen Praxis
V. Besonderes Bedürfnis nach empirisch überprüften Prognosen in der Haftpraxis
Vl. Lösungsansätze zur Verbesserung der Prognosepraxis im Haftrecht

D. Methodik
I. Untersuchungsdesign, Ziele der Arbeit und zugrunde gelegte Annahmen
II. Hypothesen und Theorie
III. Aktenanalyse
IV. Qualitative Interviews

E. Ergebnisse der Untersuchung
l. Überblick
II. Darstellung der Ergebnisse
Ill. Interpretation und Diskussion
IV Fazit, Zusammenfassung wichtigster Erkenntnisse und Verbesserungsvorschläge

F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

Wichtige Aussagen aus dem Buch

Bedeutung der Fluchtgefahr in der Praxis

Unter den Haftgründen des § 112 StPO bzw. § 112a StPO macht seit jeher die Fluchtgefahr mit 84% bis 94% den größten Teil der Haftbefehle aus.1]

Wolf, S. 34

Fehlerquote der untersuchten richterlichen Fluchtprognosen

Damit stellte sich die Fluchtprognose im Hinblick auf di Beschuldigten in rund 92% der Fälle als falsch heraus.

Wolf, S. 318

Verhältnismäßigkeit der angeordneten Untersuchungshaft

In 66 von 157 Fällen, d.h. 42% der Fälle, war die Untersuchungshaft ex post unverhältnismäßig, ein Strafverfolgungsanspruch bestand von vornherein nicht.

Wolf, S. 325

Statistische Fluchtgefahr nach Fallgruppen

Hierin zeigt sich, wie gering die Fluchtwahrscheinlichkeit bei Personen ist, die legal in Deutschland ist und
einen Job oder festen deutschen Wohnsitz hat
sowie über keine der beiden Auslandsverbindungen verfügt.
Sie liegt bei 0,3%.

Wolf, S. 346 f. (Hervorhebung hinzugefügt)

Fußnoten