Die Praxis der deutschen Untersuchungshaft wird dominiert vom Haftgrund der Fluchtgefahr. Die Fluchtgefahr wird von den Gerichten seit Jahrzehnten aus bestimmten Faktoren abgeleitet. Woher aber stammen diese Faktoren? Basieren sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und empirischer Forschung? Das Gegenteil ist der Fall. Empirische Forschung ist auf dem Gebiet nicht bzw. nur sehr rudimentär vorhanden.
Dies führt zu einer für alle Verfahrensbeteiligten unhaltbaren Situation, die von allzu großer Rechtsunsicherheit und einem großen Spielraum der Richter geprägt ist – trotz der erheblichen Grundrechtssensibilität des Haftrechts. Aus diesem Grund widmet sich die Arbeit diesem Thema mit einer empirischen Untersuchung, die quantitative und qualitative Methoden verbindet, um wissenschaftlich fundierte Rückschlüsse dahingehend ziehen zu können, welche Faktoren für eine Flucht des Beschuldigten entscheidend sind.
Hierzu wurde eine bundesweite Aktenuntersuchung anhand von rund 170 Strafverfahrensakten diverser deutscher Oberlandesgerichte (OLG) durchgeführt. Je nachdem, ob ein Beschuldigter trotz vom Gericht angenommener Fluchtgefahr nach einer wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot angeordneten Haftentlassung floh oder nicht, lässt sich untersuchen, ob die Fluchtprognose richtig war. Hierzu wurde die Lebenssituation der Beschuldigten analysiert und untersucht, welche Faktoren jeweils vorlagen. Auf Basis dessen wurde statistisch errechnet, welche Anhaltspunkte die Flucht am besten prognostizieren können. Im weiteren Verlauf wurden Interviews mit Richtern sowie ehemaligen Untersuchungsgefangenen geführt.
Auf dieser Grundlage zeigt die Arbeit nicht nur die statistische Korrelation eines jedes untersuchten Merkmals mit der Flucht auf. Vielmehr lässt sich mithilfe der eigens entwickelten Kosten-Nutzen-Theorie zur Beurteilung der Fluchtgefahr feststellen, welche Faktoren bei der Fluchtentscheidung tatsächlich eine Rolle spielen und welche Annahmen der Judikatur sich nicht nachweisen lassen.
Im Kern kristallisierte sich eine derart geringe Prognosesicherheit in der geltenden Fluchtgefahrpraxis heraus (nur 8% der Fluchtprognosen bestätigten sich), dass sich Fragen von Verhältnismäßigkeit und Rechtstaatsprinzip stellen. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich in 42% der Fälle die Untersuchungshaft ex post als unverhältnismäßig herausstellte (z.B. Bewährungen, Freisprüche, Verfahrenseinstellungen, Geldstrafen). Darüber hinaus offenbarte sich eine Diskriminierungspraxis gegenüber sozial Schwachen – insbesondere Wohnungslosen oder schlecht ausgebildeten Personen – und Nichtdeutschen in der Haftpraxis. Hier zeigt sich eine Tendenz, schlecht begründete Haftbefehle auf leicht zu bejahende, angeblich fluchtanreizende Faktoren zu stützten.
Dies führt zu einem besorgniserregend hohen Anteil an Nichtdeutschen in den deutschen Untersuchungshaftanstalten. Weiterhin wird die Kontrolle durch höhere Gerichte ebenso wie die Effektivität richterlicher Kontrolle in den Blick genommen. In diesem Kontext zeigt die Dissertation auf, welche Missstände insbesondere bei der Dauer der Inhaftierung und der besorgniserregend mangelhaften Begründungspraxis bestehen.
Insgesamt zeigt die Arbeit Lösungswege zur Verbesserung der bisher untragbaren Situation auf, indem sie anhand statistischer Untersuchungen einzelne Punkte identifiziert, anhand derer sich die Fluchtgefahr in Zukunft deutlich besser prognostizieren lässt.
A. Einleitung
I. Problemaufriss
II. Vorgehensweise der Arbeit
B. Überblick über die Untersuchungshaft
I. Gesetzliche, theoretische und praktische Grundlagen der Untersuchungshaft
II. Übersicht über die Rechtsprechung zu fluchtbegünstigenden und fluchthemmenden Merkmalen
Ill. Exkurs: Fluchtgefahr und Unionsbürgerschaft unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Haftbefehls
C. Prognosen in Theorie und Strafrechtspraxis – insbesondere: Die Fluchtgefahrentscheidung als Prognoseentscheidung
I. Die Prognose im Strafrecht
II. Entscheidung über die Fluchtgefahr als Prognose
Ill. Struktur der Entscheidung nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
IV Einschränkungen hinsichtlich Prognosen in der strafrichterlichen Praxis
V. Besonderes Bedürfnis nach empirisch überprüften Prognosen in der Haftpraxis
Vl. Lösungsansätze zur Verbesserung der Prognosepraxis im Haftrecht
D. Methodik
I. Untersuchungsdesign, Ziele der Arbeit und zugrunde gelegte Annahmen
II. Hypothesen und Theorie
III. Aktenanalyse
IV. Qualitative Interviews
E. Ergebnisse der Untersuchung
l. Überblick
II. Darstellung der Ergebnisse
Ill. Interpretation und Diskussion
IV Fazit, Zusammenfassung wichtigster Erkenntnisse und Verbesserungsvorschläge
F. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
Unter den Haftgründen des § 112 StPO bzw. § 112a StPO macht seit jeher die Fluchtgefahr mit 84% bis 94% den größten Teil der Haftbefehle aus.1]
Wolf, S. 34
Damit stellte sich die Fluchtprognose im Hinblick auf di Beschuldigten in rund 92% der Fälle als falsch heraus.
Wolf, S. 318
In 66 von 157 Fällen, d.h. 42% der Fälle, war die Untersuchungshaft ex post unverhältnismäßig, ein Strafverfolgungsanspruch bestand von vornherein nicht.
Wolf, S. 325
Hierin zeigt sich, wie gering die Fluchtwahrscheinlichkeit bei Personen ist, die legal in Deutschland ist und
Wolf, S. 346 f. (Hervorhebung hinzugefügt)
einen Job oder festen deutschen Wohnsitz hat
sowie über keine der beiden Auslandsverbindungen verfügt.
Sie liegt bei 0,3%.