Nach § 163 Abs. 2 S. 1 StPO gilt:

»Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes übersenden ihre Verhandlungen ohne Verzug der Staatsanwaltschaft.«

Das Problem

Der Wortlaut der Norm erscheint eindeutig, wenn auch die Auslegung des Wortes Verhandlungen in diesem Zusammenhang nicht so leicht erscheint.

Gleichwohl entspricht es verbreiteter Praxis der Polizei und des Zolls, Ermittlungen erst recht spät, teilweise erst nach Abschluss der von ihnen für erforderlich gehaltenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu übersenden oder mitzuteilen.1

Dies führt zu den (gewollten) Effekt, dass letztendlich die Polizei entscheidet, wann und in welchem Umfang der Beschuldigten oder dessen Verteidiger ihren Anspruch auf Information über die Ermittlungen, üblicherweise durch Akteneinsicht, gewährt wird.

Zweck der Übersendungspflicht

Staatsanwaltschaft ist Herrin des Ermittlungsverfahrens

Einig ist sich die Kommentarliteratur, dass die Staatsanwaltschaft als »Herrin des Ermittlungsverfahrens« das Ermittlungsverfahren leiten muss2 und daher zur justizmäßigen Sachleitung der polizeilichen Ermittlungen verpflichtet ist3.

Die Polizei ist Ermittlungsperson4 der Staatsanwaltschaft.

Die Leitungsaufgabe der Staatsanwaltschaft kann freilich nicht ohne die hierfür notwendigen Informationen erfüllt werden.5

Dazu LR/Erb6:

Die uneingeschränkte Verpflichtung der Polizei, ihre „Verhandlungen“, also alle bei ihr erwachsenen Vorgänge, ohne Verzug, also auf dem schnellsten Wege, der Staatsanwaltschaft zu übersenden, soll bewirken, dass die Staatsanwaltschaft ihrer Aufgabe gerecht werden kann, sich aus einer umfassenden Sachverhaltskenntnis heraus erforderlichenfalls unmittelbar in die Ermittlungen einzuschalten und die weitere Sachbehandlung zu beeinflussen.

Akteneinsicht des Verteidigers oder des Beschuldigten

Soweit ersichtlich erwähnt aber keine Kommentierung, dass die Übersendung der »Verhandlungen« nicht nur zur Leitungsaufgabe der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, sondern auch vielmehr für die Sicherstellung des Anspruchs auf Akteneinsicht.

Nach § 147 Abs. 5 S. 1 StPO ist für die Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft zuständig. Die Polizei darf keine Akteneinsicht gewähren. Die Akteneinsicht ist konkretisiertes Verfassungsrecht, nämlich des Anspruchs auf »rechtliches Gehör«.

Nach Art 6 Abs. 3 lt. a) EMRK hat jede angeklagte Person als Mindestrecht, »innerhalb möglichst kurzer Frist [...] über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden.«

Zeitpunkt der Übersendung

Richterliche Auffassung

Ziegler in SSW-StPO7:

Dies hat ohne zeitlichen Verzug zu geschehen, d.H. nach Abschluss aller für die Entscheidung nach § 170 erforderlichen Ermittlungshandlungen einschließlich der Beschuldigtenvernehmung (§ 163a StPO).

Rechtskonforme Auffassung

Wie gezeigt, ist die Übersendung der »polizeilichen Verhandlungen« notwendig für den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Akteneinsicht als »Normallfall« der Gewährung des rechtlichen Gehörs.

Daher muss § 163 Abs. 2 S. 1 StPO EGMR-konform dahingehend ausgelegt werden, dass durch rechtzeitige/unverzügliche Übersendung der »Verhandlungen« an die Staatsanwaltschaft diese ihre Pflicht auf unverzügliche8 Unterrichtung des Beschuldigten erfüllen kann.

Auch die Entscheidung des Gesetzgebers für den Plural bei »Vernehmungen« spricht für eine Pflicht zur sukzessiven Übersendung der jeweiligen Ermittlungshandlungen.

Die Auffassung der richterlichen Kommentatoren ist daher nicht nur unverständlich, sondern schlicht verfassungswidrig und rechtsfremd.

Keine "Heilung" der Polizeipraxis

Kein Gewohnheitsrecht

Es ist zumindest tröstlich, dass aus dem perpetuierten Gesetzesverstoß der Ermittlungsbehörden kein Gewohnheitsrecht für die Polizei entstanden sein soll:

Ziegler in SSW-StPO9:

Abweichend vom gesetzlichen Leitbild hat sich in der Praxis des polizeilichen Handelns dahin entwickelt, dass in den meisten Fällen Ermittlungen über die in Abs. 1 Satz 1 geforderten ersten Ermittlungshandlungen hinaus die Sache »ausermittelt« wird (vgl. LR/Erb § 163 Rn. 24.). Damit ist jedoch noch kein Gewohnheitsrecht entstanden, dass der Polizei ein Recht zu eigenständigen Ermittlungen ohne Einfluss der StA gibt.

Kein konkludenter Verzicht auf Übersendung durch Staatsanwaltschaft

Entgegen der Auffassung von Walther kann die Duldung der Praxis nicht zu einer rechtlichen Zulässigkeit verhelfen.

AnwK-StPO/Walter10:

Da diese Handhabung von den Staatsanwaltschaften geduldet wird, ist insofern von einer stillschweigenden Beauftragung der Polizei mit der Durchführung der erforderlichen Ermittlungen auszugehen.

Zweifelhaft ist bereits der angenommene Erklärungswert der vermeintlichen Duldung. Die damit einhergehende Auffassung, die Staatsanwaltschaft könne sich durch Untätigkeit Ihrer rechtlichen Pflichten entledigen, darf als abenteuerlich bezeichnet werden. Ebenso dass der Beschuldigte durch Untätigkeit/Duldung sein Recht auf Information bzw. rechtliches Gehör verliert.

Umfang der Übersendung

Der Umfang der Übersendungspflicht richtet sich naturgemäß nach den Umfang der Akteneinsicht sowie dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit und Aktenwahrheit.11

Dementsprechend umfasst der Begriff der Verhandlungen sämtliche Ermittlungsvorgänge, d.h. die vollständigen Akten einschließlich aller Spurenakten mit Bezug zu Tat und Täter, sachliche Beweismittel sowie Verfalls- und Einziehungsgegenstände.12

Rechtsmittel

Die nicht (rechtzeitige) Übersendung der »Verhandlungen« sind polizeiliche Maßnahmen im Ermittlungsverfahren. Dagegen ist die Fachaufsichtsbeschwerde bzw. Dienstaufsichtsbeschwerde13 zulässig. 14


Fußnoten